Archiv für den Monat: Mai 2014

Märchenweisheit: Wege zum gelingenden Leben

Einige Märchen-Interpretationen  von Verena Kast sind in einem neuen Band im Patmos-Verlag zusammengefasst worden:

Verena Kast: Das Mädchen im Sternenkleid und andere Befreiungsgeschichten im Märchen. Patmos-Verlag, Ostfildern 2012

Es handelt sich um Märchen, die Befreiungswege vorzeichnen: Ablösung, Trennung, Wege aus unguten Bindungen, die eigene Identität finden, ein gelingendes Leben ansteuern. In der Analyse des Märchens: Das Mädchen ohne Hände schreibt Kast, dass es manchmal in Befreiungsgeschichten darum geht, den richtigen, den guten Moment abzuwarten im Vertrauen darauf, dass er auch kommt: „Das Gefühl für den richtigen Moment setzt voraus, dass man die Situation sehr genau wahrnimmt und sich selber in der Auseinandersetzung mit dieser Situation spürt, dass man sehr deutlich die Interaktion zwischen dem, was man zu brauchen meint, und dem, was angeboten ist, sieht.“ Vertrauen, meint Kast, kann die Not wenden.

Bei Rainer Maria Rilke hört sich das so an:

Man muß den Dingen
die eigene, stille,
ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt,
und durch nichts gedrängt
oder beschleunigt werden kann;
alles ist austragen – und
dann gebären ….

Reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen
des Frühlings steht,
ohne Angst,
daß dahinter kein Sommer
kommen könnte.

Er kommt doch !

Aber er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge,
so sorglos still und weit …

Man muß Geduld haben
gegen das Ungelöste im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben,
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind.

Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt,
lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages
in die Antwort hinein.

 

Vergänglichkeit: Harmonie mit der Wirklichkeit!

Ich habe noch einmal nachgelesen:

Vergänglichkeit, nicht Veränderung, ist das Gute an der Wirklichkeit, sagt Pema Chödrön.
Sie ist eine Meditationslehrerin, tibetischer Buddhismus, und hat eine ganze Reihe wirklich nützlicher und hilfreicher Bücher geschrieben, wie ich finde. Das Zitat ist aus dem Buch:
Pema Chödrön: Wenn alles zusammenbricht. Hilfestellung für schwierige Zeiten. Goldmann Taschenbuch 2001
Sie schreibt:
„Vergänglichkeit ist die Essenz von allem. (…) Vergänglichkeit ist Begegnung und Trennung. Vergänglichkeit ist sich verlieben und die Liebe wieder verlieren. (…) Die meisten Menschen haben keinen Respekt vor der Vergänglichkeit. Wir freuen uns nicht an ihr; tatsächlich verzweifeln wir an ihr. Wir sehen sie als Schmerz. (…) Wenn wir uns nicht gegen sie wehren, sind wir in Harmonie mit der Wirklichkeit.“ (Goldmann Verlag, Taschenbuchausgabe 2001, S. 95)
Das passt doch sehr gut als Kommentar zur Heldinnenreise von Schneewittchens Stiefmutter!
Und allen, die gerne mit der Achtsamkeitsmeditation anfangen wollen und sich dafür nicht in eine Gruppe begeben wollen oder können, empfehle ich das zauberhafte Bändchen:
Pema Chödrön: Meditation. Freundschaft schließen mit sich selbst. Kösel Verlag 2013
Dort wird verständlich und mit Humor erklärt, was Meditations-AnfängerInnen nicht wissen können, und vor allem findet sich hier die zentrale Botschaft von Pema Chödrön ein weiteres mal:
Jedes Programm, das wir zu unserer Selbstverbesserung machen, entspricht einer subtilen Aggression gegen uns selbst. Die Botschaft ist: Du bist nicht gut genug, wie du bist. Die Blickrichtung ist meist von außen nach innen, genau wie bei Schneewittchens Stiefmutter, die auch nur nach dem Blick in den Spiegel weiß, wer sie ist.
Spannend wird es, wenn wir das hinter uns lassen, und anfangen, zu akzeptieren, was ist. Dann kann der Raum entstehen, in dem Veränderung wachsen kann. Das ist nicht die Sorte Selbstoptimierung, die sich als Daten in ein Handgelenks-Bändchen einspeisen lässt und dafür sorgt, dass wir noch berechenbarer und manipulierbarer und transparenter für Verkaufsstrategen werden. Es ist die Art von sanfter Veränderung unseres Lebens, die dafür sorgt, dass wir etwas mehr Raum um uns herum haben, in dem wir atmen  und wachsen können.
Wie ein Meditationslehrer sagte:
„Ließ sich mein Leben zuvor mit einer vollgestellten Garage vergleichen, in der ich laufend an irgend etwas anstieß und entsprechend schimpfte, bin ich nun in eine Flugzeughalle mit offenen Toren umgezogen. Dort stehen dieselben alten Sachen, doch sie beengen mich weniger. Ich bin derselbe geblieben, habe jetzt jedoch mehr Bewegungsfreiheit, kann sogar fliegen.“
In: Jack Kornfield: Nach der Erleuchtung Wäsche waschen und Kartoffeln schälen. Goldmann Verlag, München 2010, S. 240
Vergänglichkeit: schafft in Wirklichkeit Raum für Neues!

Schneewittchen. Ein MärchenGespräch über Zeit, Alter, Tod und Humor.

DSC00006Letzten Montag hatten wir ein ganz erstaunliches und sehr inspirierendes MärchenGespräch in der KraftquellenArbeit: die einzige Teilnehmerin (plötzlicher Ausbruch von InselZauberWetter…) hatte sich Schneewittchen gewünscht und ich las vor.  Man denkt ja, man kennt das Märchen, was gibt es da Neues… .
Uns hat besonders die Stiefmutter von Schneewittchen interessiert, diese Frau, die sich nur von außen sehen kann, deren Herz mit dem Spiegel eins ist, in dem sie sich anschaut, und der ihr versichern muss, dass sie die Schönste ist. Diese Mutter, die so viel Angst vor dem Alter und damit vor dem Verlust ihrer Schönheit hat, dass sie das Heranwachsen der Tochter, und ihr Schöner-Werden, nicht erträgt. Die Rehabilitandin sagte: „Ihr Einflussgebiet wandelt sich, und das erträgt sie nicht. Sie könnte jetzt bald als Großmutter leben und da ihren Raum finden, aber das kann sie eben nicht. Sie will nicht, dass die Zeit weiterläuft.“ Und das ist es genau: Schneewittchen ist ein Märchen über Zeit, Alter und Tod. Also über Wandlung, Entropie.

Veränderung ist das Gute an der Wirklichkeit.“, sagt Pema Chödrön, aber diese Botschaft hat Schneewittchens Stiefmutter noch nicht gehört. Der Spiegel könnte das Vergehen der Zeit sichtbar machen, das Altern, das eine Anforderung zum Lernen ist.  Sie aber will Stasis, alles bleibt gleich, alles bleibt wie es ist. Und wenn alles bleibt, wie es ist,  wenn die Zeit angehalten werden soll, dann ist das im menschlichen Leben dem Tod nahe. Und mit dem Tod bedroht diese Frau, die nicht altern und nicht lernen will, ihre Tochter, denn ihr Neid und ihre Angst sind grenzenlos. Wir haben fast das Gefühl, sie ist der Tod, denn am Schluss, auf Schneewittchens Hochzeit, zerspringen der Spiegel und ihr Herz gleichzeitig. Also wer ohne Herz, aber mit Spiegel lebt, hat es  schwer, wenn die Zeit vergeht. Denn zum Vergehen der Zeit gibt’s bei aller Selbstoptimierung keine Alternative.
Es geht, wie oft im Märchen, um die Navigation von Lebens-Schwellen, um den Umgang mit lebensgeschichtlichen Veränderungen. Das Märchen Schneewittchen erzählt von einer misslungenen Heldinnenreise, die mit dem Tod endet, weil der Tod, die Abwesenheit von Veränderung / Leben, gewünscht wurde.
Die Tochter dieser Mutter-Figur, Schneewittchen eben, muss ohne den Segen und die Begleitung der Mutter erwachsen werden, und das gelingt nur mit sehr viel Glück und Zufall: der Förster, der den Auftrag der Mutter, sie zu töten, nicht erfüllt, die Zwerge, bei denen sie Aufenthalt, aber nicht lebendige Weiterentwicklung findet, der Königssohn, der zufällig das Zwergenhaus im Wald  und den gläsernen Sarg auf dem Berg findet. Und schließlich das Stolpern der Sargträger, das den vergifteten Apfel im Hals löst und dadurch das Leben wieder einkehren lässt.   Wie zufällig und ohne eigene  Aktion dieses Mädchen erwachsen wird, wie fragil, wie unwahrscheinlich der Erfolg dieser Heldinnenreise ist!
Davon handelt das Märchen: von der Lebens-Reise der Mutter und der Heldinnenreise der Tochter, und es macht darauf aufmerksam, was der erfolgreichen Bewältigung von Lebensaufgaben entgegenstehen kann und wo diese Aufgaben liegen.
Die Rehabilitandin (73) empfiehlt beim Älterwerden wie beim Blick in den Spiegel:  Herz und Humor, dann klappts auch mit der Tochter!