Kategorie-Archiv: Achtsames Schreiben

„Achtsames Schreiben“ ist ein Feld der KraftquellenArbeit.
Das Leitbild des Achtsamen Schreibens ist die Meditation mit ihrer Zentrierung
auf das Hier und Jetzt, den fließenden Atem und das Betrachten der eigenen
inneren Bewegungen ohne Bewertung. Diese meditative Haltung wird ins
Schreiben übernommen: Techniken wie Morgenseiten schreiben,
fließendes Schreiben, Haiku schreiben und andere Schreibformen
machen das achtsame Schreiben aus.
Es geht hier also nicht um Adressaten- oder Produktorientierung, sondern
um eine achtsame, meditative Haltung beim Prozess des Schreibens.
Die Schreibhaltung der Achtsamkeit dient der Pflege der eigenen inneren
Ressourcen und damit der Stärkung der Resilienz.

Was bleibt? – Die Heimat-Liste

IMG_1753Kürzlich las ich über eine Journalistin, die innerhalb kürzester Zeit in ihrem Leben verlor, was ihr am wichtigsten war: ihr neugeborenes Kind und ihre Lebensgefährtin.
Ariel Levy berichtete der Reporterin des ZEIT-Magazins, die sie in New York besuchte, was ihr nach dem Zerfall ihres Lebens geblieben war: ihre jüdische Identität und das Schreiben.
Vor der Frage: Was bleibt?  stehen Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen, in unterschiedlichen Phasen ihres Lebens. Für mich war interessant, dass das Schreiben ein so wichtiger und nachhaltiger Anker sein kann wie die Familienbindungen und die religiösen und kulturellen Bindungen.
IMG_1737Also schlage ich die Heimat-Liste vor, sozusagen prophylaktisch, aber auch in jedem anderen Fall:
Was verankert mich im Leben,
was ist mir Heimat,
was bleibt? 
Listen sind in meinen Schreibwerkstätten immer schnell und spontan geschriebene Texte mit zehn Eintragungen. Wenn zu einem Punkt nichts kommt, dann drei Pünktchen als Platzhalter einfügen und  zur nächsten Listennummer weitergehen. Auf diese Weise können wir  Mut zur Lücke haben, die sich erfahrungsgemäß später noch füllen lässt, inspiriert durch das Gespräch.  
In der Schreibgruppe bitte ich immer darum, höchstens  eine oder zwei Eintragungen der Liste zu veröffentlichen.
Hier ein paar Beispiele aus den Heimat-Listen, als Antworten auf die Frage: Was ist mir Heimat?
IMG_1330* Ein bestimmtes inneres Körper-Gefühl
* In der Meditation bin ich zuhause
* Meine Erinnerungen
* Beim Rudern bin ich ganz bei mir
* Mein Mann und meine Kinder
* Ein ganz bestimmter Moment in meinem Leben, der mich geprägt hat
* Mein Hund
* Meine Träume
* Meine ganz speziellen Momente im Leben, die ich in meiner Schatzkiste sammele
* Mein Glaube gibt mir Heimat bei Gott
* Das Tanzen
* Ich kann beim Singen in mir zuhause sein
Im gesprächsförmigen Nachdenken darüber, was Heimat gibt, was bleibt, kam uns der Gedanke, dass es oft gar nicht die Dinge sind, auch nicht die Häuser und noch nicht einmal, obwohl fast auf jeder Liste zu finden, die Menschen oder die Tiere. Es waren die persönlichen Erfahrungen, die nichtmateriellen Lebens-Wirklichkeiten wie

 

IMG_1694die Gedanken,
die Praxen,
die Körpererfahrungen,
die Erinnerungen,
die Träume,
die Bewegungen,
die religiösen Bindungen,
die Heimat schaffen.
Das zeigen die Heimat-Listen und das Gespräch darüber: Heimat scheint nicht nur etwas zu sein, das wir haben, sondern auch etwas, das wir schaffen, indem wir etwas tun.
Schreiben kann Heimat schaffen. 
Ariel Levy: Gegen alle Regeln. Eine Geschichte von Liebe und Verlust. Knaur Verlag 2017
ZEIT Magazin vom 14.9.2017

Skrupelloses Schreiben: auf www.Inselschreibwerkstatt-blog.de

IMG_0456Ich habe grade auf meinem Inselschreibwerkstatts-Blog zwei Artikel über das Skrupellose Schreiben veröffentlicht, die vielleicht auch für LeserInnen dieses Blogs interessant sind, denn es geht um Kraftquellen: Skrupelloses Schreiben  und Hörschreiben.
www.Inselschreibwerkstatt-blog.de
IMG_0464Die Kraftquelle ist bei beiden Schreibtechniken das Offenhalten des Raums, in dem Neues sich zeigen kann.
Skrupelloses Schreiben und Hörschreiben bringen uns ins HierundJetzt, und das ist da, wo wir uns so antreffen können, wie wir grade sind und uns „ohne den Schatten eines Urteils die zärtlichste Freundschaft erklären“ können.
(
Das Zitat über die Freundschaft stammt von Elsa Morante.)

Nichtstun. Eine echte Aufgabe!

„I didn´t have enough time to do all the nothing I want!“ 
– Ich hatte noch gar nicht genug Zeit zum Nichtstun,
ruft Calvin,  Wattersons kindlicher Cartoon-Held, am Ende der Sommerferien.

Wenn ich den PatientInnen vom Nichtstun erzähle, müssen wir das immer erstmal definieren: Nein, Zeitschriften-Lesen ist nicht Nichtstun. Gartenarbeit auch nicht.
„Ich kann das garnicht!“, stellte eine erstaunt fest, als klargeworden war, dass Nichtstun bedeutet, nichts zu tun. Also gar nichts. Auf dem Sofa sitzen. Aus dem Fenster schauen. So wenig wie möglich Input. Manchen hilft die Vorstellung vom aufgewühlten Teich, in dem viele Teilchen schwimmen, und der einfach dadurch wieder klar wird, dass nichts passiert, keine Aktivität mehr, die den Teich aufwühlen kann.
Vor dem Zugang zum Nichtstun, der Kindern manchmal noch offensteht, haben sich im weiteren Leben einige Wächterfiguren postiert, die raunzen: „Davon wird der Kohl auch nicht fett!“, oder: „Das ist unnütz!“, oder: „Das darfst du nicht, du musst immer etwas tun!“
Wir haben auch gelegentlich Sehnsucht nach Hektik, Komplexität, Lärm, Party. Wenn es zu still wird, kanns ungemütlich werden. „Ich hab keine Angst vor mir“, sagte kürzlich eine Patientin, als wir darüber sprachen, dass wir, wenn im Außen weniger Party ist, die Chance haben, uns selbst zu begegnen.
Deshalb macht es Sinn, das Nichtstun zu üben, und sich das Nichtstun auch zu erlauben. Dazu hilft die Überlegung, dass die Festplatte tatsächlich von Zeit zu Zeit komprimiert und gereinigt werden muss. Wir brauchen Arbeitsspeicher, wir brauchen Raum, in dem Neues entstehen kann. Also geben wir manchmal für einen Moment die Hektik auf, verzichten auf Reden, Tun,  Abarbeiten, Multitasking und Mich-Wichtig-Fühlen.
Am Meer geht das leichter mit dem Nichtstun.
Horizontale Linien, auf den ersten Blick wenig Komplexität. Nichts, auf das man aufpassen muss, keine schnellen Bilder, keine Gefahr. Es ist auch eher leise am Strand, wenn nicht grade ein Dauertelefonierer vorbeigeht, der sich den Tag stressiger macht als er  vielleicht sein müsste.
In unser persönliches Ressourcenbuch schreiben wir uns deshalb manchmal eine Hausaufgabe:
Jeden Tag eine halbe Stunde Nichtstun.
„Aber das wäre dann ja schon wieder eine Aufgabe mehr!“
– Na dann: Machen Sie doch, was Sie wollen!
Am besten gelegentlich:
gar nichts.

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IchHierJetzt: gibts als Kette und Text

In der KraftquellenArbeit, Abt. Achtsames Schreiben, machen wir gelegentlich IchHierJetzt-Texte:
Das erste Wort ist IchHierJetzt, danach geht’s weiter mit allem, was in den Sinn kommt. Fließendes Schreiben, Rechtschreibregeln spielen keine Rolle, das Thema ist IchHierJetzt. Schnell und skrupellos geschrieben, so lange, bis der Impuls nachlässt. In ein kleines Oktavheft oder ein Buch im DinA5-Format, das immer dabei ist. IchHierJetzt– Texte sind anlassbezogen, sie werden geschrieben immer dann, wenn der Impuls da ist, etwas zu be-schreiben.
Gestern in der KraftquellenArbeit für Mitarbeitende hatten wir eine Kollegin, die recht aufgeregt ankam. Statt zu erzählen, schrieb sie, nutzte die Energie und den Impuls, und schrieb sich die Aufregung buchstäblich von der Seele. Danach war sie ruhiger, die Sache war bearbeitet, sie war im HierundJetzt angekommen und war entspannter, aufnahmefähiger für das, was im HierundJetzt war.
Eine Rehabilitandin, die mit dem IchHierJetzt-Schreiben für sich viel anfangen konnte,  wurde vor einiger Zeit kreativ und hat das IchHierJetzt als Kette gebastelt.
Zeichen und Erinnerung, Botschaft an sich und andere: Ich Jetzt Hier.

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(Foto: Silvia Beste)

 

Ein Ort für das Unsagbare

Vorgestern sagte eine Rehabilitandin in der Schreibwerkstatt:
„Sie haben mir mit den Morgenseiten einen Ort gegeben, wo ich das Unsagbare sagen kann.“
6 8 14 105Morgenseiten:
jeden Morgen gleich nach dem Aufwachen drei Seiten handschriftlich in ein leeres Buch schreiben. Einfach alles aufschreiben, was in den Sinn kommt, ohne Zögern, ohne Zurückhaltung. Rechtschreibregeln spielen keine Rolle, der Text wird nicht korrigiert oder wieder gelesen, er wird niemandem gezeigt. Wenn keine Worte kommen, dann kringeln. Nach dem Aufschreiben Buch zuklappen und weiter leben.

Liste: Wofür ich dankbar bin

Schreiben Sie eine Liste: Wofür ich dankbar bin

Schreiben Sie hier und jetzt, sofort, ohne lange nachzudenken.
Listen in der KraftquellenArbeit haben zehn Eintragungen und werden
schnell und skrupellos geschrieben.   Wenn Ihnen nicht gleich etwas einfällt,  markieren Sie die Leerstelle mit drei Punkten und gehen Sie zur nächsten Eintragung über. Stellen Sie die Liste schnell fertig, datieren Sie sie  und legen Sie sie weg. Sollte Ihnen im Lauf des Tages  noch etwas zum Thema der Liste einfallen, fangen Sie eine neue Liste an, und legen Sie sie ebenfalls weg. Ihre Listen sind nur für Ihre Augen bestimmt, sie werden niemandem gezeigt.  Bearbeiten Sie die Listen nicht. Sammeln Sie sie nur und lesen sie gelegentlich wieder.
Vielleicht möchten Sie ein Buch, einen Block oder einen Ordner für Ihre Listen anlegen.

18.7.14 017

 

 

 

 

 

Schreibend die Dämonen zum Tee einladen

Dies ist ein längerer Artikel zu einer Methode des Heilsamen Schreibens, die ich entwickelt habe und mit Schreibwerkstatt-TeilnehmerInnen und anderen Menschen ausprobiert und diskutiert habe. Ich danke der ungenannten Teilnehmerin, die mir ihren Text zur Verfügung stellte, so dass ich die Methode an diesem Beispiel darstellen kann, und allen, die daran mit mir diskutiert haben!
Die Methode Schreibend die Dämonen zum Tee einladen bezieht sich auf Grundlagen des Buddhismus, der Psychologie und der Theorie des Schreibens, die ich hier zusammenbringe und wirken lasse.
Schreibend die Dämonen zum Tee einladen dient der Stabilisierung und der Stärkung durch Integration von als schwierig empfundenen Anteilen.

Heilsames Schreiben: Die Dämonen zum Tee einladen

„Achtsamkeit erhellt und verwandelt.“ – Thich Nhat Hanh

„Lad doch Deine Dämonen zum Tee ein!“  – Genau. Aber wie geht das?

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Die Dämonen füttern

Tsultrim Allione hat in ihrem Buch: „Feeding your Demons. Ancient Wisdom for Resolving Inner Conflict“ eine Methode beschrieben, die aus dem alten Chöd-Glauben Tibets kommt und von der buddhistischen Nonne Machig Labdrön von etwa tausend Jahren aufgeschrieben wurde.

Im Kern ist die Methode sehr einfach und  wird von heutigen PsychologInnen positiv  gewürdigt, weil sie den seelischen Gegebenheiten aus heutiger, westlicher Sicht entspricht: es geht um Integration des Gefürchteten, des Schattens, dessen, was Angst macht und beeinträchtigt. Continue reading

Was es bringt.

6 8 14 118Kürzlich fragte ein Rehabilitand nochmal ganz ernsthaft nach, was es bringe, Morgenseiten zu schreiben. Es leuchte ihm viel eher ein,  Abendseiten zu schreiben, den Tag zu resümieren, zu erklären,  etc. .

Ja.

Wenn wir Morgenseiten schreiben, öffnen wir den Raum, in dem wir auf uns selbst blicken können.
Das Selbst verdoppelt sich in der Geste der Schrift.
, sagt Villem Flusser. Im Schreiben haben wir die Möglichkeit, aus einer weiteren, kreativeren, poetischeren Perspektive auf uns selbst zu blicken. Indem wir uns dem Prozess des Schreibens überlassen, wird es möglich, dass ES sich schreibt. Erstaunliche Verbindungen, Erkenntnisse, Sichtweisen, Neues eben, werden möglich. Schreiben ist ein Werkzeug, um Erkenntnisse zu gewinnen, und eine der besten Techniken, die ich kenne, um dahin zu kommen, das Schreiben epistemisch werden zu lassen, Erkenntnis-bringend, ist das automatische Schreiben nach André Breton.
Weil wir uns dem Prozess überlassen, statt uns darauf zu konzentrieren, ein Produkt zu produzieren. Weil wir uns bewusst und absichtlich in eine Situation begeben, in der wir ein kleines bisschen Kontrolle über das, was passieren wird, abgeben und so uns selber dazu einladen, Neues zuzulassen. Wir sind befreit davon, Sinn machen zu müssen, und können die Sprache im Schreiben einfach fließen lassen, so dass sie sich zu neuen Mustern zusammensetzen kann.  Wir selbst, unser Selbst, ist immer größer als unser Problem, auch wenn unser Problem sich stilsicher in einem anthrazitfarbenen Pullover mit  schwarzem Einstecktuch zeigt. 

Und: alle Erklärung, alle Beschreibung ist wie das  Reden von der Farbe.
Es hilft alles nichts, der Mut zum Sich-Einlassen ist unersetzlich, die Einladung allerdings auch unwiderstehlich:
Die Erfahrung, die wir mit uns selber machen können, kann uns niemand vorher beschreiben.
Darin liegt eine unhintergehbare Freiheit, fand ich immer. Alles eine Frage der Perspektive.
Husum und Garten 9 2014 140

Wo bist du zwischen zwei Gedanken?

Wenn wir in der KraftquellenArbeit  ‚fließendes Schreiben‘ machen, also das, was Andre Breton ecriture automatique nannte, gebe ich immer die Anweisung: kringeln, wenn durch den Kopf nichts durchgeht. In der Nachbesprechung sagen manche dann ganz stolz: „Ich musste gar nicht kringeln!“  So, als wäre es gut, wenn da immer Gedanken sind, wenn das Karussell niemals anhält. Kringeln ist peinlich, Kringeln ist Kinderkram, Kringeln ist der Ausweis der Unfähigkeit, einen Gedanken zu fassen zu kriegen. Immer muss was da sein, immer muss was produziert werden.
Das Kringeln beim automatischen Schreiben markiert den leeren Raum, den Moment zwischen  zwei Gedanken,  wenn eine Gestalt, ein Gedanke,  abgeschlossen ist und die nächste noch nicht erschienen ist. Ein Moment der Zeitlosigkeit und der Ziellosigkeit, zwischen eben noch und noch nicht. Mir scheint, manche Menschen verbringen ein Leben in Meditation, um just diesen Moment zwischen zwei Gedanken auszudehnen.
Wenn wir alles aufschreiben, was uns durch den Kopf geht, und wir also nicht darauf konzentriert sind, ein Produkt herzustellen, sondern nur darauf, dem Schreibprozess zu folgen, dann zeichnen wir auch auf, dass wir manchmal ohne Zeit und ohne Ziel, wie Joseph Campbell sagt, einfach da sind. Der Moment zwischen zwei Gedanken ist das Tor zum still point, zu dem inneren Raum, in dem wir nicht beschäftigt sind mit den Erscheinungen um uns herum im täglichen Leben, sondern die Verbindung zu uns selbst spüren können. Die wundervolle Frage: „Wo bist du zwischen zwei Gedanken?“ wurde Joseph Campbell in Indien von einem Guru gestellt, wie er in seinen Reflections on the Art of Living berichtet:  Der Raum zwischen zwei Gedanken, die Stille in uns, ist der Ort, wo wir uns mit uns selbst befreunden können.
Die Qualität dieses Raums der Stille kommt auch in einem alten japanischen Haiku zum Ausdruck:

Einem fallenden
Blütenblatt sehe ich nach –
Welch eine Stille!
Takahama Kyoshi

Wer  weiterlesen möchte:

Inahata Teiko: Welch eine Stille! Die Haiku-Lehre des Takahama Kyoshi.
Hamburger Haiku Verlag 2006                    

Reflections on the Art of Living. A Joseph Campbell Companion.
Selected and Edited By Diane K. Osbon. Harper Collins, New York 1991