„Ach, deshalb hab ich das gemacht, das hab ich ja schon als Kind immer gemacht, wenn ich in Bedrängnis war, das hat mir damals schon geholfen…“ , sagte eine Teilnehmerin ganz verblüfft, mit dem Licht der plötzlichen Erkenntnis in den Augen.
Wir hatten das Märchen Die Madonna und der Drache gehört, aus dem Buch von Heidi Christa Heim: Märchenlicht… . In diesem italienischen Volksmärchen steigt eine Frau, die ihr schweres Leben nicht mehr ertragen kann, in einen Erdspalt hinunter und begegnet der Madonna, die dort für einen Drachen die Glocken läuten muss, damit der nicht auf die Erde gelangt und dort Verwüstungen anrichtet. Die Heldin nimmt später die Glockenstränge selbst in die Hand, und als sie erschöpft ist und nicht weiter kann, fängt sie plötzlich zu singen an, wie sie das als junges Mädchen getan hat. Das beruhigt den Drachen.
Dieser Moment faszinierte uns im Gespräch, und einige erinnerten sich, was es wirklich war, das die Krise in ihnen ausgelöst hat. Sie berichteten von ungeplanten Rückgriffen auf ganz alte persönliche Kraftquellen: „Ich bin einfach losgelaufen, so wie früher als Kind…“ , „Ich hab die Fähigkeit zum Vertrauen wiedergefunden und mich fallenlassen…“, „Ich bin einfach stundenlang mit dem Auto über die Insel gefahren, mit ganz lauter Rockmusik in den Ohren, so wie früher als Achtzehnjährige…“ .
Darum geht es: den Raum zu betreten, in dem es möglich wird, dass alte Kraftquellen-Handlungen, alte Kraftquellen-Gefühle wieder auftauchen können und ihren Zauber neu entfalten können. Dieser Raum ist oft, wie es das Märchen auch beschreibt, gar nicht so angenehm: die Heldin ist mit ihrer Kraft am Ende, schon zum zweiten mal innerhalb kurzer Zeit, sie ist auch am Ende ihrer Weisheit, sie ist völlig erschöpft. Denken, Pläne machen, berechnen, nach Anweisung handeln hilft nicht mehr weiter, für diese Situation gibt es keine Blaupause.
Das ist immer der Moment, in dem die Heldin zu Heldin wird: so wie bisher geht’s nicht weiter. Kein angenehmer Ort, aber ein höchst interessanter: im Zwischenraum zwischen nicht mehr und noch nicht entsteht, ganz zart und leicht, das Neue, und es entsteht meist aus dem Rückgriff auf das Alte, Abgesunkene, Vergessene, die Kräfte von früher: singen, tanzen, radfahren, rennen, sitzen, bewundern, wertschätzen, loslassen, vertrauen, sich freuen. Plötzlich ist etwas Neues geschehen, Rilke sagt in seinem Frühlingsgedicht:
Kleine Wasser ändern die Betonung.
So geht das. Absichtslos, ohne Ringen, ohne Kampf, ohne Plan, ohne Vorsatz und ohne Rezept.
Die Veränderung entsteht aus dem ganz zarten und bodenlosen Sich-Einlassen auf das, was ist. Und dann geht es leichter weiter.