Kategorie-Archiv: Märchen- und Mythenarbeit

Märchen und Mythen sind ein wichtiger Teil der KraftquellenArbeit. Als Geschichten über HeldInnenreisen (vgl. die Arbeiten von Joseph Campbell) können wir sie nutzen, um Reiseinformationen zu erhalten. Die Methoden der Arbeit sind vielfältig, manchmal machen wir ein Heldencasting, manchmal schreiben wir die Märchen zu Ende, manchmal schauen wir uns die Figuren an, die fehlen, oder fragen uns, ob diese Ehe (im Fall von Schneewittchen z.B.) wohl halten wird.

Die alten Kraftquellen

20151104_152406„Ach, deshalb hab ich das gemacht, das hab ich ja schon als Kind immer gemacht, wenn ich in Bedrängnis war, das hat mir damals schon geholfen…“ , sagte eine Teilnehmerin ganz verblüfft, mit dem Licht der plötzlichen Erkenntnis in den Augen.

Wir hatten das Märchen Die Madonna und der Drache gehört, aus dem Buch von Heidi Christa Heim: Märchenlicht… . In diesem italienischen Volksmärchen steigt eine Frau, die ihr schweres Leben nicht mehr ertragen kann, in einen Erdspalt hinunter und begegnet der Madonna, die dort für einen Drachen die Glocken läuten muss, damit der nicht auf die Erde gelangt und dort Verwüstungen anrichtet. Die Heldin nimmt später die Glockenstränge selbst in die Hand, und als sie erschöpft ist und nicht weiter kann, fängt sie plötzlich zu singen an, wie sie das als junges Mädchen getan hat. Das beruhigt den Drachen.
Dieser Moment faszinierte uns im Gespräch, und einige erinnerten sich, was es wirklich war, das die Krise in ihnen ausgelöst hat. Sie berichteten von ungeplanten Rückgriffen auf ganz alte persönliche Kraftquellen: „Ich bin einfach losgelaufen, so wie früher als Kind…“ , „Ich hab die Fähigkeit zum Vertrauen wiedergefunden und mich fallenlassen…“, „Ich bin einfach stundenlang mit dem Auto über die Insel gefahren, mit ganz lauter Rockmusik in den Ohren, so wie früher als Achtzehnjährige…“ .
Darum geht es: den Raum zu betreten, in dem es möglich wird, dass alte Kraftquellen-Handlungen, alte Kraftquellen-Gefühle wieder auftauchen können und ihren Zauber neu entfalten können. Dieser Raum ist oft, wie es das Märchen auch beschreibt,  gar nicht so angenehm: die Heldin ist mit ihrer Kraft am Ende, schon zum zweiten mal innerhalb kurzer Zeit, sie ist auch am Ende ihrer Weisheit, sie ist völlig erschöpft. Denken, Pläne machen, berechnen, nach Anweisung handeln hilft nicht mehr weiter, für diese Situation gibt es keine Blaupause.
Das ist immer der Moment, in dem die Heldin zu Heldin wird: so wie bisher geht’s nicht weiter. Kein angenehmer Ort, aber ein höchst interessanter: im Zwischenraum zwischen nicht mehr und noch nicht entsteht,  ganz zart und leicht, das Neue, und es entsteht meist aus dem Rückgriff auf das Alte, Abgesunkene, Vergessene, die Kräfte von früher: singen, tanzen, radfahren, rennen, sitzen, bewundern, wertschätzen, loslassen, vertrauen, sich freuen. Plötzlich ist etwas Neues geschehen, Rilke sagt in seinem Frühlingsgedicht:
Kleine Wasser ändern die Betonung.
So geht das. Absichtslos, ohne Ringen, ohne Kampf, ohne Plan, ohne Vorsatz und ohne Rezept.

Die Veränderung entsteht aus dem ganz zarten und bodenlosen Sich-Einlassen auf das, was ist. Und dann geht es leichter weiter.

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Aschenputtel in der Brücke und ein link …

Am Sonntag, 8.3. ist das letzte Märchengespräch der Philowintersaison in der Brücke: es geht um Aschenputtel, das Märchen schlechthin, so bekannt,  so geheimnisvoll. Ich werde auch ein bisschen über die Motivgeschichte sprechen, die Carlo Ginzburg aufgearbeitet hat: die erste bekannte schriftliche Fassung der Aschenputtel-Motive Schuh, Suche, zauberhafte Verwandlung, Aufstieg nach Demütigung stammt aus dem Süden Chinas, aufgeschrieben im 9. Jahrhundert.
Am 8.3. um 17 Uhr, wie immer in der Brücke, Strandstr. 4G in Wyk!

Der link zum friisk funk, zu unserem Interview über die Märchengespräche und zu meinen Lesungen aus dem Inseltagebuch funktioniert jetzt. Reinhören unter:

http://oksh.de/wk/hoeren/on_demand/2015/friiskfunk_03_mrz.php

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Über MärchenGespräche…

… hat der friisk funk mit mir ein Interview gemacht.
Wir reden über das Märchen von einem der auszog, das Gruseln zu lernen, über die MärchenGespräche als Teil der KraftquellenArbeit im Reha-Zentrum Utersum und über die Philosophischen Gespräche…
Nachzuhören hier:
Märzprogramm des Friiskfunk: das Interview über die MärchenGespräche  in drei Teilen.  http://oksh.de/wk/hoeren/on_demand/2015/friiskfunk_03_mrz.php

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Entwicklungsmotive und Magie im Märchen. Ab 11.1.

Die Brücke e.V.
Philosophische Wintergespräche 2015

Märchen und Märchenarbeit: Entwicklungsmotive und Magie im Märchen
Ab 11. Januar jeden 2. Sonntag um 17 Uhr
in der Brücke e.V. , Strandstraße 4 G,  Wyk

11.1. Sneewittchen Ein Märchen über Mütter, Töchter und Spieglein an der Wand

25.1. Der Eisenhans Boyz 2 Men: Ein Märchen über Jungen, Eisen und Männer

08.2. Allerleirauh Ein Märchen über Väter, Töchter und Loslösung

22.2. Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen Ein Märchen über Tod, Angst und Humor

08.3. Aschenputtel Ein Märchen über Schuhe, Prinzen und uralte magische Motive

Eintritt frei, Spende zugunsten der Brücke willkommen!  www.bruecke-foehr.de

Licht in dunklen Zeiten

27.7.14 025Heidi Christa Heim berichtet, dass einige Völker Sibierens die Märchen, die sie in den  langen dunklen Wintern erzählen, Ohrenlicht nennen. Wenn in Zeiten der Herausforderung das Licht für die Augen fehlt und wir nicht mehr besonders weit in die Zukunft sehen können, dann helfen Märchen. Märchen, mündlich erzählte Geschichten, können Orientierung bieten auf der Heilreise.
Ich empfahl:
Heidi Christa Heim: Märchenlicht für Frauen in Trennung und Scheidung. Heilung von Herzenswunden. Verlag Via Nova, Petersberg 2004
Und letztlich, so besprachen wir das kürzlich in einer Sitzung der KraftquellenArbeit, ist jede Herausforderung, jede Lebens-Krise mit Trennungen verbunden: wir müssen uns von Zukunftsvorstellungen trennen oder von Selbstbildern, von Wünschen und Hoffnungen, die nicht mehr in Erfüllung gehen können oder von geliebten Lebens-BegleiterInnen, Menschen oder Tieren, die nicht mehr bei uns sein können.  
Die Märchen, die Heidi Christa Heim in ihrem Buch versammelt und kommentiert, zeichnen den Weg der Heldin auf ihrer Heilreise  nach: die Vorgeschichte der Trennung; Trennung und Abschied; die Suchwanderung; Häutung und Heilung; Öffnung für Andere; Die heilige Hochzeit, eine neue Ganzheit.
Schöne und seltene Märchen, berührend und klug kommentiert.
Das Buch ist eine gute Begleiterin auf der eigenen Heilreise, aus welchem Grund auch immer sie angetreten wurde.

Die Achtsamkeit in der Begleitung Anderer sichtbar machen: MärchenArbeit in der Hospizarbeit

Gestern war der Märchen-Workshop mit den Hospiz-Begleiterinnen, und nachdem wir uns im Zentrum für Stille, Tango und Bewegung nett eingerichtet hatten, fingen wir mit Frau Holle an. Wir fanden, dass der Gang der beiden Heldinnen duch den Brunnen in die andere Welt zu Frau Holle und zurück durch das Tor ein Erfahrungsweg ist, eben eine Heldinnenreise.

So oder ähnlich strukturieren wir unsere Erfahrungen, wenn etwas Neues auf uns zukommt, vielleicht etwas Schmerzliches, das wir verarbeiten müssen:
wir brechen auf aus dem Bekannten ins Unbekannte, springen hinein in die andere Welt, mitten in unsere Angst und unseren Schmerz, wir gehen durch den Brunnen und finden uns wieder auf der neuen Ebene (alles so neu und anders hier…), finden Aufgaben, Gefahren, Kämpfe, neue Menschen und Chancen, und kehren schließlich mit dem Erfahrungsschatz zurück (zu den Meinigen, sagt das Märchen), und finden uns verändert durch die Reise.
Das ist die erzählerische Grundstruktur der Veränderungserfahrung, die wir auf unsere eigenen Erfahrungen anwenden konnten.  Wir gingen den Kreis in dem schönen großen Raum, und fanden heraus, wie wir als BegleiterInnen von Menschen, die neue und schmerzliche Erfahrungen machen, gehen können, handeln können.
Im Außenkreis begleitend, achtsam, vorausschauend: durch den Brunnen, zur neuen Erfahrung, durch das Tor zurück zur Ausgangsbasis, als Veränderte.
Das Tempo und die Inhalte  der HeldInnenreise  werden von der Begleiteten bestimmt, die Begleitende geht außen, richtet sich aus, und kann, weil sie die Grundstruktur des Erfahrungsweges kennt, manches vorausahnen, kennt die Schwellen und Übergänge ins Neue, am Brunnen, am Tor. Die Begleitende hat ihren eigenen Erfahrungsweg, auch sie ist herausgefordert, wird durch die Reise verändert.
Wir gingen den Erfahrungskreis im Raum und eine Teilnehmerin fand die Worte dafür: „Wir machen die Achtsamkeit der Begleitung Anderer sichtbar!
Zum Ende formulierte eine Teilnehmerin ein Resümee: „Das macht Spaß, so szenisch zu arbeiten und kreativ an den Erfahrungen rumzudenken!“
– Das fand ich auch.
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Ereschkigal, ein Mythos für die Hospizarbeit

Vor kurzem hatte ich ein Gespräch mit MitarbeiterInnen verschiedener Hospiz-Einrichtungen und -Initiativen. Es ging darum, wie in der Qualifikation und Weiterbildung für die Hospiz-Arbeit mit Märchen und Mythen gearbeitet werden kann.

Ziel war es,  die eigenen Handlungsmöglichkeiten zu erweitern:
1. In der professionellen Selbstfürsorge
2. In der konkreten Arbeit mit KlientInnen.
Wir besprachen konkrete Situationen in der Arbeit und fanden ein schönes Beispiel  im Mythos von Inanna, der Himmelskönigin im antiken Sumer.

Zunächst die Situation, wie sie von einem Trauerbegleiter geschildert wurde:

Die Klientin kommt über Monate aus dem Klagen nicht heraus. Sie steckt fest. Ihr Trauerbegleiter fühlt sich langsam überfordert, es fällt ihm immer schwerer, die Klientin in dieser Phase anzunehmen. Er möchte, dass die Klientin weiter geht, sich weiter entwickelt. Er weiß nicht mehr, wie er noch dazu beitragen kann, fühlt sich „gefangen in der Klagemauer“.  
Dazu fiel mir der sumerische Mythos von Inanna ein:  Ereschkigal, die dunkle Schwester der Inanna, findet aus dem Klagen nicht heraus und hat Inanna, die sie in der Unterwelt besuchte, als Geisel genommen.  Da sendet der Großvater zwei Wesen, deren Aufgabe es ist, Inanna zu befreien. Sie sollen mit Ereschkigal klagen. Sie wiederholen immer nur spiegelbildlich ihre Klagen: „Oh, mein Herz!“ – „Oh, dein Herz!“, – „Oh, meine Leber!“ – „Oh, deine Leber!“ …    Nach einer Weile erkennt Ereschkigal, dass da Begleiter sind, und kann das Klagen aufgeben und in Kontakt mit den Helfern gehen.
Im Gespräch haben wir erarbeitet, was das Erfolgsgeheimnis dieser Helfer war:
Zeit  und Spiegelung waren die Mittel, welche von den Helfern eingesetzt wurden. Sie waren einfach nur da und wiederholten die Klagen, übten keinerlei Druck aus, wollten Ereschkigal zu nichts bringen.  Dadurch konnte sie selbst aus dem Klagen heraus und in den Kontakt hineinfinden.

Die Aufgabe der Helfer,  ihre professionellen Mittel  und  ihre eigene Selbstfürsorge in der Trauerbegleitung wurden deutlich: Geduldiges, empathisches Spiegeln hat hier die Wende gebracht. Das hat genügt.
Die Mythenarbeit versorgt die Trauerbegleitenden hier mit einem klaren Profil ihrer  Aufgabe, die sie als leistbar einschätzen können und bringt sie gleichzeitig in Kontakt mit dem Mythos als Ressource ihrer Arbeit.
Auch die Begleitenden sind also, in einem empathischen Sinn, begleitet in dem, was sie tun. Der bekannte und durchgearbeitete Mythos stützt und begleitet sie in ihrer Arbeit.

Ich denke, das ist es genau, wie die alten Geschichten, Märchen und Mythen heute funktionieren: als Spiegel, in dem wir erkennen können, in welcher Geschichte wir grade sind.
Im antiken Sumer wurde Ereschkigal, diese dunkle, klagende Schwester, gepriesen: Heilige Ereschkigal, ich singe Dein Lob, heißt es da.  Darüber haben wir uns intensiv unterhalten: Wofür wird diese Schwester gelobt?
Vielleicht wird sie ja dafür gelobt, dass sie da ist, um uns zu zeigen, wie wir auch in der Dunkelheit der Trauer und des Verlusts weiter gehen können. 

…von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen: Lob der Indolenz.

23.7.13 005„Was hat der, was ich nicht habe?“, fragte, ein wenig neidisch vielleicht, eine Teilnehmerin, als wir Grimms Märchen von einem, der auszog, das fürchten zu lernen, besprachen.
Gute Frage.
Wir machten ein Helden-Casting.
Welche Eigenschaften muss der haben, mit dem wir diese Heldenrolle besetzen? „Asperger“, sagte eine, und sie erntete Unverständnis und Gelächter.  Das Asperger-Syndrom, derzeit prominent verkörpert in der Rolle des Sheldon Cooper in  der Sitcom The Big Bang Theory, zeichnet sich durch ein Unverständnis sozialer Komplexitäten aus.
„Der weiß gar nicht, dass man vor bestimmten Dingen konventionellerweise Angst haben muss, und deshalb funktioniert das auch immer nicht. Der ist nicht verletzbar, nicht beleidigbar, der fürchtet sich nicht, weil ihm dafür schlicht die Phantasie fehlt.“
Der deutet einfach anders. Deshalb fürchtet er sich nicht vor dem Gespenst, sondern spricht es auf Augenhöhe an, und als es nicht antwortet, verwarnt er es drei mal, und dann stößt er es die Treppe hinunter. Die Gehenkten, die im kalten Nachtwind baumeln, will er wärmen, seinen toten Vetter auch, all den starken Männern im Spukschloss zeigt er, dass er schlauer und gewiefter ist und sich nicht die Butter vom Brot nehmen, sich auch nicht ins Bockshorn jagen lässt.
„Ja, aber der lernt nix dabei.“
-Stimmt auch, er lernt nicht, sich zu fürchten. Alles, was er erlebt, regelt er auf einer ganz anderen Ebene, einer handfesten, pragmatischen, alltagstauglichen, phantasielosen HierundJetzt-Ebene.
„Der ist einfach keine Drama-Queen!“. Das ist es. Der dramatisiert nichts, erzählt sich selber keine Zukunftsgeschichten, hat und macht keinen Plan B, kein worst-case-Szenario, kein Was, wenn… .
„Wenn ich denke, vor meiner zweiten OP, was hab ich mir alles ausgemalt, was hab ich alles geregelt, und dann: War es so einfach, so erfolgreich, der beste mögliche Fall ist eingetreten, jetzt ist es mir fast peinlich, was ich da alles veranstaltet habe!“
Wir erzählen Geschichten. Uns und anderen. Und oft sind es nicht die guten Zukunftsgeschichten, das best-case-Szenario, sondern die schlechten, die schlimmen Ausgänge phantasieren wir. Wir erzählen uns Geschichten, als könnten wir damit die Zukunft bannen, der Gefahr begegnen, als würden diese Geschichten uns rüsten oder sogar beschützen: wenn ich es mir schon mal vorstelle und ausmale, wird es vielleicht nicht so schlimm… .
Wir entwerfen uns in eine angsterregende Zukunft. Das strengt uns an, das macht uns empfindlicher, das hilft uns nicht viel weiter. Und beruhigend ist es auch nicht.
Was hat der, was ich nicht habe?
„Indolenz!“
Indolenz? – Schmerzunempfindlichkeit, eine gewisse Trägheit, eine Un-Beeindruckbarkeit, norddeutsch würde man sagen: der ist dröge.
Wie so oft im Märchen, wenn eine Männergesellschaft nicht weiterkommt, richten es, mehr so nebenbei, die Frauen. Er kriegt, da hat er schon das Gold und die Königstochter,  aber hat eben das Gruseln noch nicht gelernt, Gründlinge ins Bett.  Da gruselts ihn.
Oder vielleicht, das ist ja ein Märchen cum grano salis, vielleicht kitzeln ihn die kleinen Bartfischchen auch nur.
Wir können nicht gleichzeitig lachen und uns gruseln. 

Schneewittchen. Ein MärchenGespräch über Zeit, Alter, Tod und Humor.

DSC00006Letzten Montag hatten wir ein ganz erstaunliches und sehr inspirierendes MärchenGespräch in der KraftquellenArbeit: die einzige Teilnehmerin (plötzlicher Ausbruch von InselZauberWetter…) hatte sich Schneewittchen gewünscht und ich las vor.  Man denkt ja, man kennt das Märchen, was gibt es da Neues… .
Uns hat besonders die Stiefmutter von Schneewittchen interessiert, diese Frau, die sich nur von außen sehen kann, deren Herz mit dem Spiegel eins ist, in dem sie sich anschaut, und der ihr versichern muss, dass sie die Schönste ist. Diese Mutter, die so viel Angst vor dem Alter und damit vor dem Verlust ihrer Schönheit hat, dass sie das Heranwachsen der Tochter, und ihr Schöner-Werden, nicht erträgt. Die Rehabilitandin sagte: „Ihr Einflussgebiet wandelt sich, und das erträgt sie nicht. Sie könnte jetzt bald als Großmutter leben und da ihren Raum finden, aber das kann sie eben nicht. Sie will nicht, dass die Zeit weiterläuft.“ Und das ist es genau: Schneewittchen ist ein Märchen über Zeit, Alter und Tod. Also über Wandlung, Entropie.

Veränderung ist das Gute an der Wirklichkeit.“, sagt Pema Chödrön, aber diese Botschaft hat Schneewittchens Stiefmutter noch nicht gehört. Der Spiegel könnte das Vergehen der Zeit sichtbar machen, das Altern, das eine Anforderung zum Lernen ist.  Sie aber will Stasis, alles bleibt gleich, alles bleibt wie es ist. Und wenn alles bleibt, wie es ist,  wenn die Zeit angehalten werden soll, dann ist das im menschlichen Leben dem Tod nahe. Und mit dem Tod bedroht diese Frau, die nicht altern und nicht lernen will, ihre Tochter, denn ihr Neid und ihre Angst sind grenzenlos. Wir haben fast das Gefühl, sie ist der Tod, denn am Schluss, auf Schneewittchens Hochzeit, zerspringen der Spiegel und ihr Herz gleichzeitig. Also wer ohne Herz, aber mit Spiegel lebt, hat es  schwer, wenn die Zeit vergeht. Denn zum Vergehen der Zeit gibt’s bei aller Selbstoptimierung keine Alternative.
Es geht, wie oft im Märchen, um die Navigation von Lebens-Schwellen, um den Umgang mit lebensgeschichtlichen Veränderungen. Das Märchen Schneewittchen erzählt von einer misslungenen Heldinnenreise, die mit dem Tod endet, weil der Tod, die Abwesenheit von Veränderung / Leben, gewünscht wurde.
Die Tochter dieser Mutter-Figur, Schneewittchen eben, muss ohne den Segen und die Begleitung der Mutter erwachsen werden, und das gelingt nur mit sehr viel Glück und Zufall: der Förster, der den Auftrag der Mutter, sie zu töten, nicht erfüllt, die Zwerge, bei denen sie Aufenthalt, aber nicht lebendige Weiterentwicklung findet, der Königssohn, der zufällig das Zwergenhaus im Wald  und den gläsernen Sarg auf dem Berg findet. Und schließlich das Stolpern der Sargträger, das den vergifteten Apfel im Hals löst und dadurch das Leben wieder einkehren lässt.   Wie zufällig und ohne eigene  Aktion dieses Mädchen erwachsen wird, wie fragil, wie unwahrscheinlich der Erfolg dieser Heldinnenreise ist!
Davon handelt das Märchen: von der Lebens-Reise der Mutter und der Heldinnenreise der Tochter, und es macht darauf aufmerksam, was der erfolgreichen Bewältigung von Lebensaufgaben entgegenstehen kann und wo diese Aufgaben liegen.
Die Rehabilitandin (73) empfiehlt beim Älterwerden wie beim Blick in den Spiegel:  Herz und Humor, dann klappts auch mit der Tochter!