Vor kurzem hatte ich ein Gespräch mit MitarbeiterInnen verschiedener Hospiz-Einrichtungen und -Initiativen. Es ging darum, wie in der Qualifikation und Weiterbildung für die Hospiz-Arbeit mit Märchen und Mythen gearbeitet werden kann.
Ziel war es, die eigenen Handlungsmöglichkeiten zu erweitern:
1. In der professionellen Selbstfürsorge
2. In der konkreten Arbeit mit KlientInnen.
Wir besprachen konkrete Situationen in der Arbeit und fanden ein schönes Beispiel im Mythos von Inanna, der Himmelskönigin im antiken Sumer.
Zunächst die Situation, wie sie von einem Trauerbegleiter geschildert wurde:
Die Klientin kommt über Monate aus dem Klagen nicht heraus. Sie steckt fest. Ihr Trauerbegleiter fühlt sich langsam überfordert, es fällt ihm immer schwerer, die Klientin in dieser Phase anzunehmen. Er möchte, dass die Klientin weiter geht, sich weiter entwickelt. Er weiß nicht mehr, wie er noch dazu beitragen kann, fühlt sich „gefangen in der Klagemauer“.
Dazu fiel mir der sumerische Mythos von Inanna ein: Ereschkigal, die dunkle Schwester der Inanna, findet aus dem Klagen nicht heraus und hat Inanna, die sie in der Unterwelt besuchte, als Geisel genommen. Da sendet der Großvater zwei Wesen, deren Aufgabe es ist, Inanna zu befreien. Sie sollen mit Ereschkigal klagen. Sie wiederholen immer nur spiegelbildlich ihre Klagen: „Oh, mein Herz!“ – „Oh, dein Herz!“, – „Oh, meine Leber!“ – „Oh, deine Leber!“ … Nach einer Weile erkennt Ereschkigal, dass da Begleiter sind, und kann das Klagen aufgeben und in Kontakt mit den Helfern gehen.
Im Gespräch haben wir erarbeitet, was das Erfolgsgeheimnis dieser Helfer war:
Zeit und Spiegelung waren die Mittel, welche von den Helfern eingesetzt wurden. Sie waren einfach nur da und wiederholten die Klagen, übten keinerlei Druck aus, wollten Ereschkigal zu nichts bringen. Dadurch konnte sie selbst aus dem Klagen heraus und in den Kontakt hineinfinden.
Die Aufgabe der Helfer, ihre professionellen Mittel und ihre eigene Selbstfürsorge in der Trauerbegleitung wurden deutlich: Geduldiges, empathisches Spiegeln hat hier die Wende gebracht. Das hat genügt.
Die Mythenarbeit versorgt die Trauerbegleitenden hier mit einem klaren Profil ihrer Aufgabe, die sie als leistbar einschätzen können und bringt sie gleichzeitig in Kontakt mit dem Mythos als Ressource ihrer Arbeit.
Auch die Begleitenden sind also, in einem empathischen Sinn, begleitet in dem, was sie tun. Der bekannte und durchgearbeitete Mythos stützt und begleitet sie in ihrer Arbeit.
Ich denke, das ist es genau, wie die alten Geschichten, Märchen und Mythen heute funktionieren: als Spiegel, in dem wir erkennen können, in welcher Geschichte wir grade sind.
Im antiken Sumer wurde Ereschkigal, diese dunkle, klagende Schwester, gepriesen: Heilige Ereschkigal, ich singe Dein Lob, heißt es da. Darüber haben wir uns intensiv unterhalten: Wofür wird diese Schwester gelobt?
Vielleicht wird sie ja dafür gelobt, dass sie da ist, um uns zu zeigen, wie wir auch in der Dunkelheit der Trauer und des Verlusts weiter gehen können.