„(…) ich arbeitete an meinen Listen bevorzugt in Momenten, in denen niemand anders an Listen auch nur gedacht hätte, und störte mich an den verwunderten Blicken schon lange nicht mehr.“
– Lena Gorelik: Die Listensammlerin
Lena Gorelik beschreibt das Herstellen einer Ordnung im Geist: die Aufzählung. Das kann zur Obsession werden. Wenn der sinnvolle Zusammenhang fehlt oder nicht gestaltet werden kann, wenn die Sätze nicht da sind und die Begründungen fehlen, wenn die Ordnung neu ist oder gefährdet, wenn wir uns fühlen, als seien wir in einem Labyrinth, wenn etwas zusammenbricht, dann hilft manchmal: aufzählen, was ist.
Die Liste ist der Ursprung der Erzählung. Er-zählen, ver-tellen heißt: aufzählen, der Reihe nach darlegen. So fängt eine Geschichte an, Carlo Ginzburg hat das in seinem Aufsatz über den Jäger, der die Fährte liest, wundervoll dargestellt. Der Jäger erzählt die erste Geschichte: etwas ist dort vorbeigekommen, ich bin der Spur gefolgt, und dann… . Und dann, und dann. So fangen Kinder an, zu erzählen: und dann.
Aufzählen ist wie Gehen im Labyrinth: und dann der nächste Schritt.
Umberto Eco hat eine kulturwissenschaftliche Abhandlung über Listen geschrieben, er erzählt über die Liste der Frauen, mit denen Don Giovanni geschlafen haben will, die Liste der Dinge, die Roland Barthes liebt, die Liste der Dinge, die Leopold Bloom in seiner Küchenschublade aufbewahrt. Listen erfassen und ordnen, auf einer Liste zu stehen, kann für Menschen lebensgefährlich oder lebensrettend sein: Schindlers Liste zählt die Namen derjenigen auf, die er in seiner Fabrik zum Arbeiten braucht, und die damit eine Chance aufs Überleben haben.
In der KraftquellenArbeit schreiben wir Listen ganz unkompliziert: zehn Einträge, mit etwas Zeitdruck, und ohne viel Federlesen geschrieben.
Eine unvollständige Liste der Listen aus der KraftquellenArbeit:
- wofür ich dankbar bin
- was ich kann
- meine Sehnsüchte
- was mich trägt
- was mein Leben reicher macht
- was ich (noch) tun möchte
- meine Verzeihungen
- Menschen, die ich froh bin, dass ich nicht sein muss
- meine Melancholien
- was ich mache, damit es mir gut geht
- was ich brauche, damit es mir gut geht
- zehn Dinge, die in meine Trösteschatzkiste gehören
- erste Hilfe-Liste bei Panikattacken
Die Listen, die von den TeilnehmerInnen geschrieben werden, müssen nicht vorgelesen werden. Es gibt keinen Veröffentlichungszwang, jede entscheidet selbst, was sie von sich preisgeben möchte. Die Fragen, die ich nach dem Schreiben stelle, sind: Welches Listenthema haben Sie gewählt, Wie erging es Ihnen beim Schreiben.
Wenn wir die Listen dann (wieder)lesen und besprechen, fällt manches auf.
Zum Beispiel die Reihenfolge, die wir gewählt haben.
Was nicht auf der Liste steht, was noch drauf muss, was gar nicht drauf gehört.
Wie die Wichtigkeiten eigentlich sind, und wie unser Geist funktioniert hat beim Schreiben: von außen nach innen, vom Unwichtigen zum Wichtigen, vom Dringenden zum Laissez-faire, von der Oberfläche und dem Alltag in die Tiefe, zum Wesentlichen… oder Durcheinander, ohne sichtbare Ordnung oder Hierarchie, von Höcksken auf Stöcksken… .
Da wir die Listen nicht nur im Kopf machen, sondern aufschreiben, können wir zuschauen, wie unser Geist funktioniert, wie er ordnet, zu-ordnet, priorisiert, verbindet, weglässt. Wie unser Geist die Welt grade sieht.
Das ist besonders dann wichtig, wenn die Welt, in der wir leben, sich rasant verändert hat, wenn Ordnungen gestört sind oder weggefallen sind, wenn Neues ankommt, das wir nicht eingeladen haben, wenn wir in einer Übergangszeit leben, in der wir nicht automatisch orientiert sind. Dann hilft es, sich zu erlauben, eben keine sinn-volle Ordnung herzustellen, wo die sich noch gar nicht zeigt, sondern einfach aufzulisten: das Neue, das Alte, die schönsten Momente des Tages, die bescheuertsten Antworten, die neusten Hoffnungen, die ältesten Sorgen, die liebsten Ablenkungen, die zauberhaftesten Lächeln…
Eine Liste schreiben ist der erste Schritt, die erste Geste, mit der die Schreibende sich in ein Verhältnis zu ihrer Welt setzt. Sie verdoppelt sich in der Geste der Schrift, wie Villem Flusser sagte, und kann, weil das Geschriebene betrachtet werden kann, sich selber beim Denken zusehen.
Beim Wiederlesen und Besprechen der Listen in der KraftquellenArbeit fällt manchmal auch auf, was auf der Geheim-Liste steht, die gar nicht geschrieben wurde, die nur im Kopf existiert: da schreibt eine die Liste dessen, wofür sie dankbar ist, aber eigentlich schreibt sie die Liste ihrer Sehnsüchte. Das wird ihr klar, als die älteste Frau in der Gruppe von der Liste ihrer Sehnsüchte berichtet. Und die eigenen Sehnsüchte treiben ihr dann die Tränen in die Augen, als sie sie aufzählt, und sie spürt, wie groß ihre Hoffnungen sind und für wie vergeblich sie sie gehalten hat, so lange sie nicht aufgelistet waren. Nun aber sind sie da, in der Welt, sie stehen auf einer Liste, und wie leicht kann so eine Sehnsuchts-Liste zur to-do-Liste werden… .
Die Ausführungen zum Listenschreiben habe ich mit großem Interesse gelesen!
Ich bin selbst Trainerin für Biografiearbeit (Lebensmutige.V.) und setzte gerne Listen ein, bevorzug sog. ABC-Listen, um die Assoziationen sprudeln zu lassen.
Ich habe damit gute und für die Teilnehmer überraschende Erfahrungen gemacht.
Die Methode stammt, soviel ich weiss, von Vera Birkenbihl.
Ihr Buch „Kraftquellen“ hab ich vor einigen Jahren entdeckt, es gefällt mir sehr gut und ich finde es toll, dass es eine Wiederauflage gibt! Nun kann ich es in meinen Veranstaltungen und Seminaren (Traunstein, Chiemgau) empfehlen und vorstellen!
Das war nun länger nicht möglich, es war ja vergriffen. Gerade heute hab ich wieder mal reingeschaut, da ich einen Workshop zum Thema Resilienz vorbereite. So kam ich dann auch auf Ihre Seite……
Ich wünsche Ihnen alles Gute und melde mich sicher mal wieder!
Viele Grüße auf die Insel Föhr
Silvia Nett-Kleyboldt, Traunstein